Ilse Liedtke war die Person, nach der ich am intensivsten gesucht habe, nachdem ich die Briefe der 1939 verstorbenen Schauspielerin Herti Kirchner bekommen habe. Ich wusste nur, dass sie Fotografin in Berlin und mit dem Komponisten Harald Böhmelt liiert war. Nach dem, was ich jetzt weiß, habe ich meinen Roman über Herti Kirchner zu früh geschrieben, er wäre ganz anders geworden, wenn ich vorher Informationen über ihre Freundin Ilse Liedtke gefunden hätte.
Ich bin sicher, das Manuskript hätte sofort einen Verlag gefunden – wobei ich unbedingt erwähnen muss, dass ich ja für „Den Traum im Blick“ einen Verlag hatte, der allerdings verkauft wurde und die neuen Besitzer haben sich nicht einmal auf meine E-Mail gemeldet. Aber das ist ein anderes Thema, zurück zu Ilse Liedtke. Ich mache es aber ein bisschen spannend, schließlich habe ich auch mehrere Jahre warten müssen, bis ich endlich etwas über ihr Leben erfahren habe – in einem Buch, das 2021 in England erschienen ist, als mein Roman längst fertig war. Eher aus Neugier hatte ich mal wieder nach dem Namen gesucht und bin fündig geworden.
Herti Kirchner und Ilse Liedtke
Kurz zur Erinnerung, Herti Kirchner war eine junge Schauspielerin und Schriftstellerin, die am 1. Mai 1939 im Alter von 25 Jahren in ihrem eigenen Auto tödlich verunglückt ist, identifiziert wurde sie von ihrem Lebensgefährten Erich Kästner. Ich habe von Herti Kirchners Neffen ihre Briefe an die Familie aus dem Nachlass bekommen bzw. durfte sie nutzen und habe darauf aufbauend den Roman „Den Traum im Blick“ geschrieben und am Ende selbst veröffentlicht, nachdem der eine Verlag verkauft war und andere mir über meine damalige Agentin ausrichten ließen, mit einem Mann als Protagonisten könnten sie das Manuskript nicht ankaufen. Umso mehr ärgert es mich, dass ich von Ilse Liedtkes Leben und Wirken in den 1930er-Jahren erst nach dem Erscheinen meines Buches erfahren habe.
Auf Ilse Liedtke wurde ich aufmerksam, weil manche der Fotos von Herti Kirchner mit ihrem Namen gezeichnet waren, und weil der Name in den Briefen mehrmals auftauchte, zum Beispiel Pfingsten 1938: „Allen Vermutungen zum Trotz fahre ich nun doch über Pfingsten weg. Und zwar irgendwo an die Ostsee. Sonntagvormittag geht es los, mit Harald Böhmelts schönem Autochen, mit Erich und Ilse Liedke, der Fotografin, deren Namen Juli nie behalten konnte.“ (sie selbst hat den Namen auch falsch geschrieben 😊 ) Ein paar Wochen später berichtete Herti Kirchner: „Wir vier sind ein altvertrautes Kleeblatt. Passen prima zusammen. Ilse und ich fahren ab und zu mit dem Wagen ins Grüne, wenn die Sonne scheint.“
Und auch in ihren letzten, den 25. Geburtstag, wurde gemeinsam hineingefeiert: „Gestern waren wir mit Harald Böhmelt und Ilse um 6 im Kino. Dann tolles Schlemmerabendessen mit feinem Mosel und um 12 Uhr Sekt.“ (Brief vom 3. September 1928) Es war also klar, dass es in den letzten Lebensmonaten eine enge Freundschaft zwischen Ilse Liedtke und Herti Kirchner gab.
Meine Recherche über Ilse Liedtke
Ich habe natürlich mit einer Namensrecherche im Internet begonnen, bin allerdings bei meiner ersten Suche 2014 außer einem Foto, das sie 1932 von dem berühmten Cellisten Gregor Piatigorsky gemacht hat, in einer Auktion von Autographen nichts gefunden. Auch im Zusammenhang mit dem Komponisten Harald Böhmelt bin ich nicht fündig geworden. 2018, beim Schreiben des Romans, habe ich es erneut versucht und bin auf eine Ursula Liedtke gestoßen. In einer Veröffentlichung über den Bremer Fichtenhof – die Geschichte ist an sich schon so komplex, dass ich sie hier weglasse. Dort wird erwähnt, dass Ursula Liedtke die mittlere von drei Schwestern gewesen sei, die ältere Schwester Ilse sei Fotografin gewesen und die jüngere Maria bzw. Marianne Violinisten. Hier habe ich dann erstmals etwas über die Eltern von Ilse erfahren. Der Vater Ernst Liedtke war ein renommierter Anwalt in Berlin und ein großer Musikliebhaber, allerdings jüdisch. Ilse Liedtke und ihre Schwestern waren also auf jeden Fall Halbjüdinnen und dennoch fuhr sie noch 1938 munter mit ihrem Lebensgefährten, Erich Kästner und Herti Kirchner durch Berlin. Ihre Mutter Emma stammte aus einer Bankiersfamilie. Die Eltern unterstützten alle drei Töchter dabei, ihren Traumberuf zu erlernen, Ilse bekam ein komplettes Fotostudio, Marianne Stunden bei den besten Geigenlehrern und Ursula Schauspielunterricht bei Ilka Grüning, die u. a. auch Lilli Palmer und Inge Meysel unterrichtet hat. Endlich hatte ich weitere Anknüpfungspunkte für meine Suche und fand tatsächlich über Marianne Liedtke unter dem Namen Maria Lidka (1914-2013) einen Eintrag bei Wikipedia. Dort wurde nur erwähnt, dass eine ältere Schwester Fotografin war und eine andere Schauspielerin, allerdings auch, dass der Vater 1933 Berufsverbot bekam und Maria 1934 nach London ausgewandert ist. Über Ilse fand ich allerdings keine weiteren Informationen, sodass ich meinen Roman so geschrieben habe, wie er dann erschienen ist. 2021 habe ich noch einmal gesucht, mehr über Maria(nne) und Ursula Liedtke gefunden, aber nichts über Ilse. Der Durchbruch kam im Herbst 2022, als ich vor der Buchpremiere noch einmal nach den wichtigsten Personen gesucht habe. Dabei habe ich das Buch aus England entdeckt und bestellt, es musste tatsächlich aus Großbritannien geliefert werden! Aber das hat sich gelohnt.
Über Ilse Liedtke und ihr erstaunliches Leben
Ilse Liedtke wurde am 18. September 1910 als erstes Kind des Ehepaares Ernst und Emmy Liedtke in Berlin geboren, wo sie auch aufgewachsen ist und die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat. Bei wem sie ihre Ausbildung gemacht hat, ist nicht bekannt, aber mindestens ab 1932 muss sie ihr Fotostudio an der Budapester Straße gehabt haben, denn aus dem Jahr datiert das Foto des Cellisten Gregor Piatigorsky, einem Bekannten ihrer jüngeren Schwester Marianne. Das erste Foto von Herti Kirchner, das zeitlich eingeordnet werden kann, stammt von Ostern 1937. Ab wann Ilse mit dem Komponisten Harald Böhmelt liiert war, ist nicht bekannt, aber Pfingsten 1938 waren sie ja schon mit Erich Kästner und Herti Kirchner ein Herz und eine Seele. 1942 bekam Ilse Liedtke einen Sohn von Harald Böhmelt, geheiratet hat sie den Vater ihres Kindes jedoch nie. Was genau der Grund dafür war, dass das Paar nicht heiratete, konnte auch der Neffe, der das Buch über seine Mutter und seine Tanten geschrieben hat, nicht in Erfahrung bringen. Ein gravierender Hinderungsgrund könnte gewesen sein, dass sie keinen akzeptablen Abstammungsnachweis vorlegen konnte bzw. dass sie überhaupt einen Nachweis anfordern musste bzw. in die Fänge der Bürokratie gelangt wäre. Die gesamte NS-Zeit hindurch lebte sie unbehelligt in Berlin, gefährlich wurde das Leben erst, als russische Soldaten nach dem Krieg in die Stadt kamen. Ein anderer Grund würde die Verweigerung der Hochzeit könnte sein, dass Ilse wusste, dass Harald Böhmelt eine zweite Freundin hatte, die im selben Jahr wie sie ein Kind zur Welt brachte. Vielleicht störte Ilse aber auch die Parteizugehörigkeit ihres Freundes. Möglicherweise hat die ihr das Leben gerettet. Während der gesamten Zeit ihrer Beziehung begleitete Ilse Liedtke den Komponisten zu offiziellen Einladungen auch aus den Kreisen der höchsten Nationalsozialisten. Gleichzeitig waren die beiden aber auch mit Erich Kästner befreundet, mit Werner Finck, dem man 1935 das Kabarett geschlossen hatte, und Otto Dix, dessen Kunst die Nazis als entartet und zersetzend ansahen. Und in der ganzen Zeit, das war es, was ich gerne in einem Roman aufgearbeitet hätte, hat die Halbjüdin Ilse Liedtke in Berlin Juden und Jüdinnen geholfen, unterzutauchen. Ich habe ja schon viele Berichte über solche Form des Widerstandes, auch des jüdischen Widerstandes gehört und gelesen, aber das fand ich doch erstaunlich. Immerhin wurde ihr Onkel im Konzentrationslager Auschwitz ermordet und man schickte ihr seine letzte Habe, von der sie seinen Judenpass bis an ihr Lebensende aufbewahrt hat. Gestorben ist Ilse Liedtke am 23. Februar 1986. © 2025 Dr. Birgit Ebbert www.vergessene-frauen.de
Quelle u. a. Simon May „How To Be a Refugee. One Family’s Story of Exile and Belonging“. Picador 2021.
Vielen Dank an Simon May für die zusätzlichen Informationen und die Erlaubnis, die beiden Fotos aus dem Buch hier zu verwenden.